So ist das Leben, sagt er, hält mir seinen schmutzigen Hut entgegen und blickt mich dabei mit unsicher auffordernden Augen an. Sein Gesicht, bedeckt mit tagealten Bartstoppeln, spricht mehr als sein Mund. Verzweifelte Hoffnungslosigkeit schreit mir aus Runzeln, aus trockener rissiger Haut entgegen. Jede Spur in seinem Gesicht, hinterlassen von unsäglicher Tragik, eingebrannt vom tödlichen Feuer des Lebens, das keines mehr ist, weil es käuflich geworden ist, und niemand war da, das Feuer zu löschen, die Wunden zu heilen – Selbstheilung zwecklos – jede Spur ein Zeichen, ein Merkmal, ein Spiegelbild unserer Zeit, unserer Gesellschaft, eine Anklage an sich.
Dieser Mann, der sich aufgegeben hat, dasitzt auf seiner Habe, die er in einer alten Ledertasche bewahrt, ist nur noch Anklage. Peinlichkeit trifft den Passanten – ein Bettler, wie sieht denn der aus, so schmutzig und unrasiert, hat denn der nichts besseres zu tun? Warum kümmert sich niemand darum, wer ist überhaupt zuständig? Pfui, die Polizei sollte man rufen! Darf der das?
Gedanken, die wohl gedacht werden, ich lese sie in ihren Gesichtern, die vorbeihuschen, einen Augenblick schnelleren Schrittes als vorher beim Bummeln vor den Schaufenstern, plötzliche Zielstrebigkeit, so als hätten sie noch etwas vergessen einzukaufen. Es ist auch das schlechte Gewissen, die Angst vor der Anklage, sie könnte treffen, Verantwortung verlangen, die sie schneller gehen lässt. Nur nicht hinschauen. Und doch die Neugierde vor der exotischen Armut, dem Elend, der menschlichen Tragik, lässt sie einen Augenblick, aus sicherer Entfernung, hoffentlich sieht es niemand, hinschauen, ein Blick huscht über sein gegerbtes Gesicht, die Hand mit dem Hut, das Schild mit der Aufschrift:
Allein, entlassener Lehrer, obdachlos bittet um Spende. Danke!
Im Überfluss nichts sein und nichts haben, unverständlich für den Gläubigen, der da glaubt, alles mit seiner technisierten Vernunft erfassen, regeln, organisieren und meistern zu können. In seinem Glauben an die Technik, an die Vernunft, die Ratio, an den Fortschritt, das immerwährende Wachstum und die Sicherheit wird er zum Ungläubigen, zum Heiden, denn er vergisst oder verdrängt das menschliche Wesen, das geprägt wird auch durch seine Schwächen neben den Stärken, durch seine Emotionen, die der Vernunft entgleiten können, ja sogar müssen, um Mensch zu bleiben. Wäre der Mensch Maschine, technisches Räderwerk mit absoluter Logik programmiert, wie es sich so mancher Mächtige dieser Zeit wünscht, so wäre das Leben sinnlos. Es hätte keinen Bestand.
Die Augen des Mannes, sein Alter wage ich nicht zu schätzen, haben einen leisen, zarten warmen Schimmer, seine Anklage, die er ist, ist seine Art von Hoffnung. Nicht Hass, sondern verzweifelte Lieben zum Leben versteckt sich scheu; wahre Gefühle hat er zu beherrschen, zu verheimliche gelernt, so, wie wir es alle lernen, allein er hat nicht mehr die Kraft dazu, sie ganz zu verstecken. Er hat sich ergeben – seinem Schicksal, aber auch seiner Aufgabe: Das schlechte Gewissen der Gesellschaft schlechthin zu sein, der Gesellschaft, die ihn fallen lässt, die persönliche Bequemlichkeit zur Priorität gemacht hat, und dabei mit salbungsvollen Worten ihr soziales Netz auswirft, ohne vorher die Löcher gestopft zu haben.
Ich glaube, er weiß das alles, sieht klar und ohne ideologische Verklärung die Realität, wie sie ist. Er sagt, er sei Lehrer gewesen, habe fünfzehnjährige Schüler in Deutsch und Geschichte unterrichtet. „Ich habe sie geliebt,“ sagt er, „diese Kinder, die mir so viele Sorgen machten, ich wollte sie retten, sie nicht untergehen lassen. Ich wollte sie lehren, dem Konsumzwang und dem Ideologiezwang zu widerstehen, lehrte sie zu differenzieren, zu analysieren, nach der Wahrheit und Wahrhaftigkeit einer Aussage zu fragen, ich lehrte sie, kritisch zu zweifeln, auch an sich selbst, ich wollte sie urteilsfähig machen, um sich den Krakenarmen derer zu entziehen, die auf ihre Kaufkraft, ihre Manipulationsfähigkeit vertrauen. Ich wollte sie retten, wollte sie lehren die Liebe zum Menschen, zur Natur, zur Schöpfung, zum Feind, der gar keiner ist, er wird immer nur dszu gemacht, ich weiß warum, des Geldes wegen. Man hat mich rausgeworfen – Disziplinarverfahren mit der Folge Entlassung – als Grund: Verfassungsfeindliche Agitation! Die Liebe als Verfassungsfeind – das ist die Formel,“ sagt er.
Ich spüre die Auflehnung in seinen Worten; doch die Stufen sind zu hoch, die er gefallen ist. Er kann sie nicht erklimmen, denn jeder Schritt zurück wäre für ihn Verrat an seinem Glauben.
Er schaut mich an, den Hut in der Hand, die schimmernde Glut in den Augen – bewegungslos klagt er mich an. Ich gebe ihm zehn Mark, um mein Gewissen zu beruhigen. Aber es wird nicht mehr ruhig …
Zu sehr bin ich betroffen.
Was glaubt ihr würde mit ihm heute passieren, wenn eine rechtsradikale neofaschistische Partei bestimmen könnte, wer was wie zu lehren hat? Das hatten wir schon einmal – solltet ihr wissen, wenn ihr in Geschichte aufgepasst habt …