Der Baum auf dem Hügel

Lange sah ich ihn an. Dumpf thronte seine Krone über ihm, gab ihm Größe und Ausdruck. Das Licht, das durch die Wolken blitzte, traf sanft seine Blätter, die leicht unter der Berührung zuckten. Er ragte hoch hinaus. Weit konnte man ihn sehen. Aber weit konnte auch er sehen. So sah er mich schon lange, bevor ich überhaupt wusste, dass ich irgendwann vor ihm in seinem Schatten stehen würde. Mir schien, er hatte lange nachgedacht darüber, was er mir zu sagen habe. Nein, er sprach nicht mit Worten, die der Mensch hören kann, so war es nicht. Er sprach anders. Ich kann es wohl nicht beschreiben. Wie sprechen Bäume? Wer kann sie verstehen? Wer wird mich verstehen?
Lange sah ich ihn an. Er nickte mit seinem erhabenen Haupt, die Äste knarzten, er war schon alt, seine Haut runzlig und voller Falten und Narben eines langen Lebens; er hat wohl viel durchgemacht.
Ich spürte wie er atmete, röchelnd die Luft einsog, tief einsog – mir schien als habe er Asthma – sein Atem ging schwer, wohl unter Schmerzen. Vorsichtig trat ich näher, berührte seine Haut, seinen Stamm, gab meine Wärme, meine Liebe, strich, seine rauen Narben spürend, langsam und behutsam über die Rinde. Ich spürte ein Zittern im Holz, im Laub, in mir.
Lange sah ich ihn an, stand da, die Hände auf seiner Rinde und horchte.

„Es gab Zeiten, da nisteten Vögel in meinem Haupt, meiner Krone, mein Laub war belebt, ihr Gesang weckte mich am Morgen.“
Ein Blatt, wie eine Träne aus großer Höhe, fiel herab zu meinen Füßen.
„Ich gab den Vögeln Schutz und sie erfreuten mich mit ihrem Gezwitscher. Es gab auch Zeiten, da kamen Menschen zu mir. Sie suchten nach Schatten und Ruhe und lagerten unter meinem Laubdach. Ich liebte sie, denn ich spürte, sie kamen nicht, um zu stören.
Es war Frieden um mich herum und Glück. Manch junges Paar sah ich sich lieben und mein Herz blieb jung. Es gab Zeiten, da wuchs noch grünes Moos zu meinem Füßen und Eichhörnchen vergruben darin ihr Winterfutter. Das Moos ist fort. Das Gras ist fort. Das Eichhörnchen und die Vögel sind fort. Nur noch einer ist da, der Mensch. Doch er wird mich auch verlassen. Du willst widersprechen? Tu´s nicht! Kein Grund die Wahrheit zu leugnen. Längst bin ich nicht mehr jung, längst nicht mehr der Größte auf meinem Hügel, der Hochspannungsmast mit seinen sirrenden Drähten hat mich bezwungen, er überragt mich triumphierend, schau, wie er grinst. Die Straße, auf der lautes Blech über meine Wurzeln fährt, ist hart, ich kann sie nicht durchbrechen, sie hat mich gefesselt. Die Luft stinkt nach Tod, ich atme schwer. Die rasende Neuzeit hat mich schwindlig gemacht. Es ist kalt. Der Mensch, der gestern in seinem Auto gestorben ist, nachdem er gegen meinen Stamm prallte, hat mir den Rest gegeben. Es gab Zeiten, da lebte ich; nun werde ich sterben, mein Freund. Du hast mir zugehört. Ich weiß, du wirst nicht schweigen.“
Er erzählte mir noch vieles aus seinem Leben, dass man im Krieg mit Bomben nach ihm warf, dass ihn ein Blitz vor Jahren einen ganzen Ast gekostet hatte, dass in seinen jungen Jahren einmal ein junger Mann seinen Namen und den seiner Liebsten in den Stamm geritzt hatte, direkt unter der Astgabelung, man sah nur noch eine knollige Narbe davon, hoch droben, stolz habe er sie getragen diese Narbe, ein verschwiegenes Zeichen des Vertrauens, das dieser junge Mensch ihm entgegenbrachte.

Ja, er hat mir noch vieles erzählt. Nicht mehr alles weiß ich heute noch.
Es waren drei Tage vergangen, da fuhr ich auf der Straße an ihm vorbei – und sah ihn liegen.

Ja, er hat mir viel erzählt. Noch spüre ich seine Rinde unter meinen Händen.